Brief an Clemens Brentano, Frankfurt a. M., 19. Mai 1802
[S. 1, sichtbar]
d 19. Mai.
Es war mit ganz wunderlich zu
Muth als ich Ihren Brief gelesen
hatte; doch war ich mehr denkend
als empfindend dabei; denn es
war mir, und ist mir noch so,
als ob dieser Brief gar nicht
für mich geschrieben sei. So
bestehle ich mich selbst. Aber
es ist keine künstliche Anstalt
daß ich so denke, es ist ganz
von selbst so gekommen.
Ja ich verstehe den Augenblik
in dem Sie mir geschrieben
haben; ich bin überhaupt nie
weiter gekomen als Ihre Augenblikke
ein wenig zu versteh-
[S. 2, nicht sichtbar]
hen. Von ihrem Zusammenhang
u Grundton weis ich gar nichts.
Es kömt mir oft vor als hätten
Sie viele Seelen, wenn ich nun
anfange einer dieser Seelen gut
zu sein, so geht sie fort, u eine
andere tritt an ihre Stelle,
die ich nicht kenne, und die ich
nur überrascht anstarre. Aber ich
mag nicht einmal an alle Ihre
Seelen denken, denn eine davon
hat mein Zutrauen, das
nur ein furchtsames Kind ist,
auf die Straße gestosen; das
Kind ist nun noch viel blöder
geworden, und wird nicht wieder
umkehren. Darum kann ich Ihnen
[S. 3, nicht sichtbar]
auch nicht eigentlich von mir schreiben.
Ihren Brief an Bettine über
Wahrheit habe ich gelesen und
er hat mir viel Freude gemacht
und zugleich um einige Ansichten
reicher, die mir vorher nur
dunkel, u schwankend waren.
Bettine wird diesen Brief einschließen.
Ich habe sie sehr lange
nicht gesehen, sie hat mir auch
nicht geschrieben wie sie mir
versprochen hatte.
Ich bin fleißiger und zeichne auch
wieder, kurz ich folge allen Ihren
vernünftigen Rathschlägen.
Karoline