Wunschbilder und Träume

Berlin den 5ten Octb.

Liebster Bruder

Ich sehe Dich also vor Ostern nicht wieder, und darüber soll ich nicht traurig sein. Wirklich lieber Bruder Du verlangst sehr viel zu viel. Du frägst was Du mir in einigen Tagen sein kanst. Gewiß diese Frage kam nicht aus Deinem Herzen sonst köntest Du ja auch fragen was Du mir in 14 Tagen sein köntest. O Gott was wolte ich darum thun Dich einen Tag eine Stunde bei mir zu haben und Du frägst was Du mir in einigen Tagen sein kanst. Überhaupt lieber Bruder hat mir Dein Brief aus mereren Gründen sehr wehegethan es herscht ein Ton darin den ich mir nicht erklären kan ich habe ihn sehr oft gelesen und hätte manchen Ausdruck so gerne gemildert es scheint (vergib mir das) als wenn Du den freundschaftlichen Thon darin hättest erzwingen wollen. Dieser Gedancke hat mich würcklich einige Tage unglücklich gemacht. Ach ich wünschte ich könte Dir alles was ich fühle fürchte und hoffe recht deutlich darstellen. Du lebst jezt im Geräusch der Welt und diese Welt gefelt Dir. Du studirst es unter Menschen blos Mensch zu sein. Wirst Du Dich da nicht nach einem jeden zu sehr modelliren müßen? Und wen Du Dir nun durch dis Modelliren den Beifal der Menschen erwirbst wen sie Deinen Meinungen beipflichten blos weil es die deinigen sind wird Dir das nicht ein Gefühl von unfehlbarkeit geben? Und wird Dir dis zu große Zutrauen auf Deine Kräfte nicht Deine Bescheidenheit rauben die Dich in den Augen vernünftiger Menschen so liebenswürdig machte. O Vergieb mir liebster Bruder alles was ich schreibe aber mich dünkt Du hast Dich etwas verändert ich glaube Du bist ein klein wenig eitler geworden sei nicht böse über meine Offenherzigkeit ich konte es ohnmöglich verschweigen […] Deine Liebe und Deine Freundschaft ist mir alles und es würde mich unglücklich machen wen ich auch nur einen kleinen Theil davon verliehren solte. Schreib mir […] ja bald ja gleich wen Du mich nur ein klein wenig liebst. […] Ich bitte Dich noch einmal mein bester Bruder schreib mir ja sogleich. Lebe recht wohl bleibe gesund und vergiß mich nie so wie Dich nie nie vergeßen wird Deine Dich ewig zärtlich liebende Schwester

Sophie Tieck

Grüß doch Wakenroder recht herzlich von mir.